Mittwoch, 8. Juni 2011

Seine Wohnung ist leer, ganz leer. War sie eigentlich schon von Anfang an. Keine Möbel, kein Nichts. Nur eine Matratze und eine Tasche mit Klamotten stehen in einem Zimmer, wobei die Matratze mehr liegt als daß sie steht. Licht gibt es nur im Bad oder wenn er den Kühlschrank öffnet, das einzige Überbleibsel des Vormieters. Er hat nur ihn da gelassen, sonst nichts.

Als er von der Arbeit kommt, wundert er sich immer noch darüber, daß heute alle Kunden grüne Schals getragen haben – mitten im Sommer. Eigenartig. Er setzt sich vor den geöffneten Kühlschrank wie an jedem Abend. Nach zwei Minuten wird das Summen des Kühlaggregats lauter werden, das hat er in den letzten Tagen beobachtet. Dann wird er die Tür zustoßen und nur noch das Licht der Straßenlaternen haben, das hier ein oranges Dreieck an die Wand zeichnet. Die Bierdose zischt und er wischt sich die feinen Tropfen auf dem Arm an der Jacke ab. Er lehnt den Kopf an die Wand und schaut zum Fenster hinaus. Wieso hängen hier Gardinen? Ich habe keine Gardinen. Hier hat jemand Gardinen aufgehängt! Wie, um sich zu vergewissern, geht er alle Räume der Wohnung ab. Alle leer, bis auf den mit der Matratze und seiner Tasche, nirgends Gardinen. Irgendwas stimmt da nicht. Er weiß nicht weiter und beschließt, sich hinzulegen. Kaum im Bett gelandet, schläft er sofort ein.

Er wacht frühmorgens auf, weil die Sonne ihm durch die gardinenlosen Fenster genau ins Gesicht scheint und läuft sofort in die Küche, die Gardinen sind noch da. Er schiebt sie auf und zu, sie gleiten noch nicht richtig auf der Stange, aber das dauert ja immer ein bißchen. Er befühlt den Stoff und muß sich eingestehen, daß da jetzt wirklich Gardinen sind, in seiner Küche. Nach dem Duschen holt er den Computer aus der Tasche, stellt ihn auf den Sims über dem Waschbecken und schaltet ihn ein.

Während er Zähne putzt, aktiviert er mit der freien Hand die Webcam. Dann schäumt er sein Gesicht ein und beginnt sich zu rasieren. Seine Bewegungen werden verzögert auf dem Bildschirm gezeigt, aber einen besseren Spiegel hat er nicht.

Auf der Arbeit tragen schon wieder alle grüne Seidenschals und es ist immer noch Sommer. Zwei Tage in Folge, eigenartig, eigenartig. Ein Mann lehnt telephonierend an einer Wand, mit dem Ellenbogen in einem Gemälde. So stumpfsinnig muß man erstmal sein.

Wieder zuhause angekommen, geht er zuerst in die Küche. Ja, doch, so langsam gefallen ihm die Gardinen. Als er im Bad nach dem Handtuch greift, stellt er fest, daß dort jetzt die gleiche Gardine hängt wie in der Küche. Aber warum liegt da ein Zehennagel vorm Klo? Er durchforstet erneut alle Zimmer und bemerkt erst jetzt, daß jemand abgewaschen hat. Das Brettchen, das Rotweinglas, die Messer, alles wieder sauber. Mehr hat er noch nicht gebraucht zum Frühstücken. Brot und Käse schneiden, Saft trinken, das ist übersichtlich und einfach, aber man sollte jederzeit und auch alles ausschließlich aus Weingläsern trinken. Das ist ein guter Satz, den merke ich mir mal für Smalltalksituationen, da kann man dann gleich mal mit einem Statement reingehen, denkt er und legt sich auf seine Matratze. Außer Dosengetränke, die muß man aus der Dose trinken. Er liegt auf dem Rücken und sieht in den Himmel. Weil die Matratze direkt unterm Fenster liegt und hier noch niemand Gardinen aufgehangen hat, sieht er ein recht großes Stück Himmel. Ein lautes Dröhnen nähert sich und an der Kante des Fensterrahmens erscheinen einige Lichter, die die Silhouette eines Flugzeuges bilden, daß sich von der Fensterkante hin zur Baumkrone bewegt und dort verschwindet. Ich habe noch nie aus dem Bett Flugzeuge landen sehen, denkt er und schläft über diesen spektakulären Gedanken ein.

Am nächsten Morgen, alles wie gehabt. Ein Nachtarbeiter ist das nicht, der hier ständig die Wohnung verändert. Er zieht das Holzbrett und das Messer aus dem abgewaschenen Geschirr und fragt sich, warum dort auch vier Saftgläser stehen. Er hat sie jedenfalls nicht benutzt. Wer weiß. Das Radio dudelt vor sich hin, er gesteht sich ein, daß er das schlagereske neue Clueso-Lied doch mag. Er läßt das Geschirr stehen und geht zur Bahn; wenn er pfeifen könnte, würde er dabei pfeifen.

An seinem Arbeitsplatz angekommen sieht er wieder nur grüne Schals und schwitzende Menschen. Selbst schuld, denkt er und trinkt erstmal eine Schwippschwapp. In der Raucherpause, die er sich, obwohl er Nichtraucher ist, nimmt, weil er sich solidarisch mit dieser Protestbewegung zeigt, fragt ihn der neue Kollege, der auch schon mal anderswo sein alter Kollege war: „Warum sehe ich hier eigentlich ständig Hunde mit erigierten Penissen?“ Bevor er über eine Antwort nachdenkt, lacht er erstmal herzlich, was er viel zu oft schon so gemacht hat. Auch danach denkt er nicht über die Antwort, sondern nur über die Frage nach. Habe ich schon jemals einen erigierten Hundepenis gesehen? Nein. Ist Penes nicht der schönere Plural als Penisse? Ja. Und überhaupt, warum heizt man öde Gesprächsrunden nicht öfter mit der Frage an: „Kennen Sie eigentlich den Plural von Klitoris?“ Wahrscheinlich, weil man öfter eine gescheuert bekäme oder gefragt würde: „Was ist ein Plural?“ als die Antworten „Klitoris“, „Klitorus“ und „Klitorides“ zusammen fielen. Komische Welt.

Als er am Abend das Gelände verläßt, ist das Pförtnerhäuschen verwaist. Der Security-Proll hängt in seinem getunten Auto, genauer im Motorraum oder wie das heißt. Er schraubt irgendwo rum und paßt auf, daß sein weißes Security-Poloshirt nicht dreckig wird. Harter Job. Die Bahn fährt von links durchs Bild und er (nicht der Wachmann, sondern der namenlose Held unserer Geschichte) rennt hinterher und er springt noch rein, weil von innen jemand die Tür geöffnet hat. Er atmet durch, schaut sich um und vor ihm steht eine seiner Kolleginnen. Zufälle gibt’s, denkt er und dann noch: „Ich schaue sie an und das schöne Mädchen zeigt mir seine Augen.“ So würde er diese Situation in einer Geschichte aus Ich-Perspektive formulieren. Wenn er Geschichten aus Ich-Perspektiven schreiben würde.

Keine neuen Gardinen heute. Überhaupt: keinerlei Veränderungen in der Wohnung. Warum bemerkt hier keiner, daß eine Klobürste fehlt? Enttäuscht über das Fernbleiben des geheimen Innenausstatters, beschließt er, nochmal loszugehen, um eine Klobürste zu kaufen. Er malt sich aus, wie er an der Kasse angestarrt wird, wenn er kurz vor Ladenschluß um 22 Uhr eine riesige Packung Klopapier und eine Klobürste kauft. Den Playboy würde er dazu nehmen, für den verstärkten Effekt. Als es dann aber weder die Klobürste noch den Playboy gibt, fällt ihm wieder ein, daß Netto einfach schon immer scheiße wahr. Nicht Fisch, nicht Fleisch – nicht Aldi, nicht Rewe. Zu nichts zu gebrauchen. Kunst sozusagen. Vielleicht ist das der Wert von Netto: eine künstliche Simulation eines Supermarktes, eine Parodie. Vielleicht ist es das.

Als er am Tankstellenzeitschriftenregal suchend herumtigert und ihn die Verkäuferin fragt, ob er etwas Bestimmtes suche, antwortet er: „Den Playboy“ und wundert sich über die Selbstverständlichkeit seiner Antwort. Werde ich langsam erwachsen, fragt er sich, nachdem er bezahlt hat und als er im Auto in den Spiegel sieht: „Was macht dann der riesige Pickel da unter meinem Auge?“ Er versteht es nicht.

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