Freitag, 4. März 2011

Als Boris das Lokal betrat, sah er als erstes Andreas, den Barkeeper. Vier oder fünf Leute vorm Tresen versperrten die Sicht auf die Tafel mit den Gerichten des Tages. Zwischen ihnen und der weit von der Decke hängenden Lampe erkannte er eigentlich nur „ßler“ und schräg drunter „erkra“ –genug, um innerlich in die Hände zu klatschen. Wenn wir hier beim Glücksrad wären, dachte er, würde ich „Ich möchte lösen“ sagen und „Die Lösung ist: Kaßler mit Meerrettichsoße, Knödeln und Sauerkraut 5,50“. Er hatte also mal wieder den richtigen Tag erwischt, ganz zufällig und das machte es noch besser. Der Koch kam rein, zweimal Kaßler in der Hand und stellte die Teller auf dem Stammtisch ab. „Für mich das Gleiche, bitte“. Der Koch schaute hoch. „Mensch, Boris, was machst’n du hier?“ freute er sich. Boris freute sich auch und der Koch sagte, daß er viel moderner aussähe mit den kurzen Haaren. Boris sagte, daß sich ganz schön viel verändert hatte, seit er das letzte Mal hier war und der Koch zuckte daraufhin mit den Schultern. Dann verschwandt er wieder in der Küche und Boris war am Tresen dran. Wie immer einmal Kaßler und eine Cola, bezahlen. Er setzte sich, weil nirgends sonst Platz war, an den Stammtisch zu den Kaßleressern, nahezu gleichzeitig mit einem jungen, schüchternen Pärchen. Die beiden schienen zu denken, daß hier jemand an den Tisch kommt. Nach einiger Zeit ging dann der Junge zur Bar und kam mit der kleinen Karte, diesem eingeschweißten Blatt Papier, oder wie man das nennt, zurück. Laminiert, genau, das ist es. Der früher ganz neue blaue Holzfußboden war jetzt schön verschrammelt. Das Mädchen wollte einen Salat und tatsächlich sah sie wie so eine verbissene Klischee-Vegetarierin aus, wie es sie in den Neunzigern schon nicht mehr wirklich gegeben hatte. Der Koch brachte Boris‘ Kaßler und der fiel sofort darüber her. Der Junge bekam dann auch einen und das Mädchen guckte ob des fasrigen Fleisches angewidert in ihren Kakao. Neenee, das hatte er nicht bestellt, sagte der Junge, Klöße wollte er, das sind ja wohl Knödel oder nicht. Der Teller wanderte zum Nachbartisch und das Mädchen schien zufrieden. Das Sauerkraut war für Boris‘ Empfinden etwas zu sauer, er hob es unter die Meerrettichsoße. Ein Fest. Der Koch war auch schon wieder da und setzte einen nein zwei Teller vor dem Jungen ab, einen mit Klößen und einen mit einer riesigen Haxe. Boris war begeistert, der Junge auch. Das Mädchen wußte gar nicht, was sie machen sollte, Boris glaubte, sie würde ihn verlassen oder später im Bett vollkotzen. Denk ich mal, dachte er. Dann mußte er los, auf der anderen Flußseite warteten ein Mädchen und ein Hund. Er fragte Andreas nach der Musik im Radio und ging an der rauchenden Vegetarierin vorbei zum Auto.

Er war, wenn man die angekündigte Viertelstunde Verspätung einrechnete, verhältnismäßig pünktlich. Noch zweimal um die Ecke und er war da. Ein scheppernder Radfahrer nam jeden Bordstein mit, zwei Schwarzkapuzte Männer standen am Geldautomat. Boris regte sich über zwei verschwenderisch geparkte Autos auf und dann war er da. Eva winkte schon von weitem. Ob sie ihn etwa gerade überholt hatte ohne es zu merken, fragte sie. Er sagte ihr, daß ihr Fahrrad klappere, sie zeigte ihm daraufhin relativ stolz den losen Gepäckträger und demonstrierte ihm durch eingehendes Vor- und Zurückbewegen, daß da nur noch zwei kleine Schrauben dran waren, die den Laden zusammenhielten. Wo ist denn der Hund? Zuhause geblieben. Nun. Beide klapperten ein paar Straßen weiter und gingen in eine Kneipe von früher. Also nicht, daß sie da jemals gewesen wären, von früher meinte nur: dunkel und stickig und man kann drinnen rauchen. Sie bestellten Bier und Cola und Eva schenkte Boris ein Buch, das ihm noch besser gefiel als sie erwarten konnte. Also er hatte den ersten Teil. Sie redeten über Kunst, die Zukunft und seine Freundin und Boris verstand überhaupt nicht, warum der Hund nicht mitgekommen war. Sie wäre neulich zum ersten Mal allein und ohne Hilfsmittel in eine Kneipe gewesen. Das hatte sie früher nie gekonnt und wollte es jetzt lernen. Er gab zu, daß er, der er sehr gern allein in Kneipen oder Cafés ging, dies immer mit Hilfsmitteln täte, also einem Buch oder Zettel und Papier. Mit Zettel und Papier meinte er Stift und Papier oder Stift und Heft oder so. Das hatte sich so falsch bei ihm eingeschliffen. Weil, wenn man ganz ohne Hilfsmittel allein in einer Kneipe sitzen wolle, müsse man rauchen oder wenigstens Bier trinken. Weil in ein Bier kann man ja einfach reingucken und dann ist das gut. Das geht nicht mit Kaffee oder Cola oder sowas, nicht mal mit Wein. Sie fragten sich, ob man nicht einfach ein Bier dazubestellen könnte zum eigentlichen Getränk, nur zum Reingucken. Auf die Frage „Welches Bier denn?“ des Kellners konnte man dann den Schocker bringen „Egal, kann auch alkoholfrei sein.“ Da würde der dann ganz schön staunen bei so viel Kühnheit, denk ich mal, dachte er.

Später ließ er sich zu einer heißen Schokolade hinreißen, einer großen natürlich und als die Kellnerin fragte „Mit Sahne?“ dachte er nur „Ist der Papst katholisch, Mäuschen?“ und sagte „Ja“ oder sowas. Sowas wird natürlich auf den Fuß bestraft. Er bekam eine Tasse, aus deren Keramik man getrost zwei Waschbecken hätte gießen können, mit einer äquivalenten Sahnehaube in Größe des Fichtelberges. Eine Stunde nach dem Kaßler eine vollwertige Mahlzeit in süß. Er erinnerte sich an die Übelkeit nach einem „Mont Blanc“ auf der Rue Mouffetard in Paris vor vielen Jahren, einem Crêpe mit viel Schokosauce, Sahne, die die Franzosen so himmlisch „crème chantilly“ nannten, gehörig Mandeln und „Dulce de Lecce“ oder wie das Zeug hieß. Er hatte damals fast gekotzt, weil es so viel war und so gut, daß er nicht aufhören konnte zu essen. Wegen einer heißen Schokolade das große Erinnern anfangen – du fängst ja schon an wie Marcel Proust, sagte er sich und fühlte sich sofort beleidigt. Er nahm das dann zurück und entschuldigte sich bei sich. Obwohl ja auch immer ein Fünkchen Wahrheit bei sowas mitschwingt.

Eva sagte, daß sie sich einen neuen Namen zulegen wollte, nur fiel ihr keiner ein. Biographie, Frisur, Website – alles fertig, aber der Name? „Du hast dir eine Biographie für dich ausgedacht?“ fragte Boris und sie sagte „Klar! 83 geboren (warum sich bei der Gelegenheit nicht ein wenig jünger machen?); Studium der Malerei; heute Land- und Anstreicherin; rotes Herz und bunte Kleider.“ So einfach war das. Da wäre er nicht drauf gekommen, aber ganz soweit weg von der Realität schien es ihm nicht. „Familienstand und Hobbies gehen die Öffentlichkeit doch einen Scheiß an.“

Was Boris auf dem Heimweg bereits befürchtet hatte, nämlich, daß er völlig verweichlicht war, weil er den Rauch in Kneipen, also eigentlich Kneipen an sich, nicht mehr gewohnt war, wurde später noch doppelt bekräftigt: seine Augen tränten während der gesamten Fahrt wie blöd und als seine Frau ihn am nächsten Tag fragte „Wo warst du denn? Deine Klamotten stinken ja abartig! Verraucht und muffig“ wußte sie das nur noch zu untermalen mit den Worten „Wie in deiner alten Wohnung.“

1 Kommentar:

  1. Da frage ich mich immer warum sich damals die Frau in den Mann verliebt hat, wenn der immer gestunken hat. Und zweitens frage ich mich, wann es ein Revival auf der Rue Moufftard geben wird? Ich vermisse den Mont Blanc!

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