Mittwoch, 30. Juni 2010

Ich habe einen Reisegott, und er ist aus Gummi, man kann ihn aufblasen. Er kommt überall mit.

Mit seinem richtigen Namen heißt er ›Zippi Oloron‹ – weil er aus einer kleinen Stadt in Frankreich stammt, die heißt Oloron. Da lag er in einem verstaubten Schaufenster und sah trübsinnig drein, weil sich niemand um ihn kümmerte. Er hatte etwas durchaus Götzenartiges –: er war hellgelb, mit grünen Gesichtszügen, die unentwegt grinsten, als Uniform hatten sie ihm so etwas wie einen Frack der großen französischen Akademie aufgemalt. Auf dem Kopf saß ihm eine spitze, hohe, rote Tüte. Ich kaufte ihn sofort.

Von Oloron habe ich wenig gesehen – ich blies den ganzen Tag Zippi auf. Er hatte es mir gleich mitgeteilt, dass er Zippi hieße, Glück bringe und von Beruf Reisegott sei.

Man konnte ihn auf tausenderlei Weise aufblasen. Man konnte ihn rapide aufpusten, dass wir beide ganz dick vor Anstrengung wurden – auch konnte man ihn andante beblasen, säuselnd sozusagen ... Dann lernte er manches: er konnte, wenn man ihn dazu anhielt, stramm stehen oder die Hände auf dem Rücken verschränken, ach! und dann kamen die beiden kleinen dicken Wurstärmchen wieder nach vorn geschnellt, wenn er es gar nicht mehr aushalten konnte vor lauter Atmosphärendruck.

Zu seiner ganzen Geltung aber kam Zippi erst in Lourdes.

Ich hatte mir über einer Baumwurzel ein Bein aufgeschlagen, und mußte nach Lourdes zurückfahren, um mir von einem richtigen Menschenarzt im Bein herumschneiden zu lassen. Mit der Wunderquelle hatte ich es nicht so im Sinn ... Der Arzt, ein tüchtiger pieksauberer Mann, schnitt, verband und packte mich für zehn Tage ins Bett. Zippi immer mit.

Da regierte er den ganzen Laden. Er stand auf dem Kopf, las alles mit, bekam zu essen und machte alle seine Kunststücke auf einmal. Nachts kuschelte er sich unter das Bettdeck, und einmal wäre er um ein Haar in den Verband mithineingewickelt worden. »Was ist denn das –?« sagte der pieksaubere Doktor. »Das ... eh ... das ist eine Puppe!« sagte ich. (Was eine Gotteslästerung war. Zippi ist keine Puppe.) Der Arzt sah mich scheu von der Seite an, ob mir vielleicht auch noch andere Pflege not täte. Nein, danke.

Zippi bringt Glück auf der Reise – das ist erwiesen. Gepäck, das mit dem Zuge nicht mehr mitkommen kann, weil es – immer mal wieder – zu spät aufgegeben wurde, kommt auf geheimnisvollen Wegen nachgetrudelt; Züge, die traditionelle Verspätung haben, kommen pünktlich an, und er, der Gewaltige, hat sogar schon einem Mitropa-Kellner anständigen Kaffee entlockt. Da waren wir aber beide sehr stolz.

Zippi fährt nicht gern im großen Schrankkoffer; er wohnt in der Handtasche. Er trinkt nur ein wenig Zahnwasser, sonst benimmt er sich recht manierlich, und auch Opfer will er nicht dargebracht haben, der Gott. Von Zeit zu Zeit nur – ich fühle das in meinem Herzen – will er hinaus. Dann mache ich die Tasche auf und blase den Flachgeglätteten auf. Er darf dann aus dem Fenster sehen. Sind junge Damen im Coupé, so halten sie das für eine höchst dämliche Art der Anknüpfung, und die Luft wird ganz hellkalt, sie sehen mich gar nicht mehr an. Sind es ältere Damen, so erwachen Mutterinstinkte in ihnen, und eine besonders nette, freundliche, alte Dame hat sich Zippi denn auch einmal herüberreichen lassen. Aber er wollte nicht, schüttelte sich, oben fiel der Propf aus seinem Hutzipfel, pfiff! machte es – und die entsetzte Greisin hielt einen weichen Gummilappen in der Hand.

Zippi ist widerstandsfähig und sehr tapfer. Zwischen Basel und Bern habe ich ihn einmal einem schrecklichen Kerl unter den Sitz geschoben, der fuhr auf, wie vom wilden Affen gebissen, und warf Zippi in die Ecke. Ich hob ihn still auf und tuschelte ihm etwas zu – da verließ der Kerl das Coupé und wollte es nicht mehr wissen.

Man kann Zippi auch an die Gasleitung anschließen, doch ist das nicht sehr fein, und er hat es auch nicht gern. Ich drohe ihm manchmal damit, wenn er mir meine Wünsche nicht erfüllt. Er hat maßlose Angst davor: wenn er ganz voller Gas ist, sieht sein Kopf aus wie ein älterer Gummiball, mit leichten Rissen, und sein Gelächter klingt dann krampfhaft, er grinst nur noch vor Anstrengung, nicht aus dem Leim zu gehen. Übrigens kann er so ziemlich alle Sprachen, die wir brauchen: französisch und englisch und schweizerisch und grob – und jetzt habe ich ihm die aufgemalten Zähne wegradiert, nun hat er kein Gebiß mehr, und nun kann er auch dänisch.

Ich bete ihn selten an, wir glauben uns beide das nicht so recht. Er ist zwar als Hausgötze angestellt – aber schließlich bei dem Gehalt ... Es ist ein Gott, mit dem man sich duzt; ich sage, wenn ich in eine fremde Stadt komme, so beim Auspacken: »Na, du – Zippi ... !« und dann grinst er. Wir sind uns zu nahe, um Gläubiger und Gott zu spielen – dazu gehört Distanz. Merkwürdig, wenn man einen Lachenden, wie diesen Zippi, sehr lange ansieht, dann wird das lächelnde Gesicht erst zur Maske, dann zum bemalten Ball, dann unerträglich – und auf einmal ist es ganz ernst. Da gleitet nun alles so an ihm vorüber – unbeweglich bleibt er, wohin lacht der Kerl –?

Ich bin ihm neidisch – er sieht etwas, was ich nicht weiß. Nachts habe ich ihn manchmal heimlich belauscht; einmal lehnte er an der Whisky-Flasche, und ich guckte um die Ecke und sah ihm zu. Vielleicht würde ich es jetzt herausbekommen, worüber er lacht ... Aber als ich fünf Minuten und zehn Minuten gestanden hatte, da sah ich: er hatte mich schon lange bemerkt, grinste vor sich hin und über mich und nach wie vor über sein großes Unbekanntes. Habe ich dich dafür, mit deinen kurzen Batterbeinen, der Katze aus dem Rachen gezogen, sehr vorsichtig und unter frommem Gemurmel? Du Gummigott.

Sieh, wie er lacht! Ja – sei still. Bald wirst du eingepackt, wenn wir hier oben fertig sind, in dem fetten Dänemark, und dann rumpelt es eine ganze Weile, und du wirst ein bißchen von den Zollmännern revidiert – und dann, wenn du aufwachst, wenn du wieder aufwachst, du dummer ewiger Hausgötze: dann sind wir wieder zu Hause, bei dir zu Hause – in Frankreich. In Paris.

Peter Panter: Der Reisegott Zippi. In: Vossische Zeitung, 03/07/1927.

Mittwoch, 23. Juni 2010

In dem Moment, als sie sich verabredeten, setzte ein gewaltiger Schub Vorfreude in ihm ein. Er sah sie jetzt ganz deutlich vor sich, obwohl er doch eigentlich ganz allein nur auf der Landstraße stand und die Telephonzelle ansah. „Fernmündlich“, schoß es ihm durch den Kopf. Seine Großmutter war zwar schon vor über fünf Jahren gestorben, aber bei wichtigen Telephonaten, und das hier war ganz bestimmt das Wichtigste überhaupt, mußte er immer noch an sie denken. An sie, an „fernmündlich“ und an „Münzfernsprecher“. Immer nur ganz kurz blitzten diese Gedanken auf, dann dachte er wieder an SIE. SIE, die er also morgen Abend ins Lichtspielhaus ausführen würde. SIE – seine holde Maid.

Er würde mit dem Bus in die Stadt fahren, sich vorher adrett kleiden und sie dann den ganzen Abend, Film hin oder her, ansehen, sich an ihr laben, sie vielleicht gar berühren. Ihm wurde ganz blümerant zu Mute bei diesem Gedanken.

Er ging die Straße entlang zurück nach Hause. Er blickte sich um und einzig das Gelb der Telephonzelle durchbrach das Grau, das ewige Grau, das der Regen über Himmel und Felder gelegt hatte. Er bog auf einen Feldweg ab, hüpfte wie ein Schuljunge zwischen den Pfützen in Richtung des elterlichen Hofes. Das Gartentor quietschte wie immer beim Öffnen. Völlig durchnäßt, rauchte er unter dem Verschlag noch eine Zigarette bevor er ins Haus trat. Seine Eltern hatten das Grammophon angestellt, wie sie es an Feiertagen zu tun pflegten, das konnte er von draußen hören. Die krassen Beats hallten durch das Gehöft. Er sah durchs Fenster, seine Mutter dancete wie bekloppt. Während er noch einmal zum Brunnen ging, hatte seine Mutter an der Feuerstelle eine Pizza aufgetaut, die sie beim Trödler auf dem Markt erstanden hatte. Nach dem Essen ging er in seine Kammer und schlief vorfreudig ein.

Der Bus ging um halb vier. Bereits seit zwanzig Minuten stand er am Straßenrand und schaute minütlich auf seine Taschenuhr, die ihm sein Oheim vor Jahren geschenkt hatte, um sie gleich wieder in seine Westentasche zu stecken. Er besaß nur diese eine Weste, die er nur zu besonderen Anlässen trug, genau wie die grünen Schlüpfer, doch das konnte man freilich gar nicht sehen oder wissen.

Nachdem er einen Fahrschein gekauft hatte – das Ticket war noch nicht erfunden damals – setzte er sich neben die alte Frau Augenstern aus dem Nachbardorf. „Sie sehen aber chic aus, junger Mann!“ Sie musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle und er fühlte sich ob des Lobes ein wenig gebauchpinselt, weswegen er fast unmerklich zwar, aber eben doch errötete.

Der Bus setzte sich in Bewegung. Bis zur Stadt waren es gut 25 Meilen. Die Felder rauschten am Fenster vorbei, er schlummerte ein. Munter wurde er erst, als der Bus ruckartig zum Stillstand kam. Er blinzelte ein wenig und blickte verdutzt um sich: Apfelbäume, Fachwerkhäuschen, ein herumtollender Junge, alles wie gemalt, ganz herrlich pittoresk. „Du Lausbub!“ brüllte der Busfahrer den Dreikäsehoch an, weniger wütend als viel mehr froh darüber, daß nichts passiert war. Der Junge taumelte verschämt zurück in die Arme seiner besorgten Mutter, die sich entschuldigte und ihren Sohnemann glücklich in die Arme schloß. So wurde das Dörfchen wieder zu dem Kleinod, das es gewesen war, bevor der Bus es durchkreuzte.

Als der Bus sich wieder in Richtung Stadt, in Richtung Lichtspielhaus, in IHRE Richtung bewegte, schaute er noch einmal zurück und sah das gelbe Ortseingangsschild, das immer kleiner wurde bis es am Horizont verschwand. „Labsal – freie Kreisstadt“ stand darauf und er wunderte sich darüber…

Montag, 7. Juni 2010

Achtung an alle.

Hier kommt ein Musikerwitz:


Ein Schlagzeuger bei der Aufnahmeprüfung an der Musikakademie.

Der Professor spielt ihm zwei aufeinanderfolgende Töne vor: C, dann E.

"Erkennen Sie das?" fragt der Professor.

"Hmm... Kann ich das nochmal hören?"

Wiederum erklingt das C, dann das E.

"Puh... Moment, gleich hab ich´s! Aber lieber noch ein drittes Mal, bitte!"

Der Professor spielt: C, E.

"Ok, alles klar: Klavier!"


ERKLÄRUNG:

Der Witz liegt darin, dass der Prüfling eigentlich die Töne heraushören muss. Aber wie es sich am Ende, also im Bereich der Punchline, herausstellt, denkt der offenbar, er solle das Instrument erkennen! Insgesamt wird kolportiert, dass Schlagzeuger etwas unterbelichtet sind.


Lachen im Postfach.


// Newsletter von Hans E. Platte sind der Hit

Sonntag, 6. Juni 2010

Er hatte sich so eben am anderen Ende der Bar im Spiegel entdeckt und fühlte sich beobachtet. Vielleicht ein Doppelgänger? Garçon, einen Cognac! Mit Kaffee war hier nichts mehr zu erreichen. Konnte er den Verfolger loswerden? Erschießen? Mittwoch, mittags, auf dem Boulevard Saint Michel? Unmöglich. Vielleicht noch einen Aperitif. Oder gegenüber ins Kino? Vielleicht lief ein alter amerikanischer Gangsterstreifen. Wie konnte ich nur den Schalldämpfer im Wagen vergessen?

Jetzt liegt er mit dem alten Peugeot auf dem Grund der Seine. Verdammte Scheiße! Was tun? Que faire?, hatte Bordiac immer gesagt. Aber höchstwahrscheinlich lag auch er jetzt auf dem Grund der Seine. Oder hatte sich in den Ruhestand verabschiedet. Jedenfalls hat ihn ewig keiner gesehen. Aber was heißt das schon. Mich hat auch ewig keiner gesehen. Ich selbst hab mich ja ewig nicht gesehen, seit mein einziger Spiegel, am Peugeot, versenkt war. Und jetzt also am Ende der Bar.

Diese Spiegelwände in kleinen Geschäften und Kneipen hatten ihn schon als kleiner Junge verunsichert. Mehr vorgeben, als man ist. Und dann läuft irgendwer immer auf. Ein kleiner Träumer, der ganz im Hier und Jetzt träumt, der nicht an Spiegelwände denkt, weil es sie für ihn nicht gibt. Phantasie war nie seine Stärke gewesen. Piraten, Indianer, Außerirdische. Zu bunt, zu lächerlich irgendwie. Wir müssen durch den Spiegel gehen, hieß es in einem alten Chanson. Doch wie? Vielleicht zwei oder drei Mal war er in so einem Laden an den Spiegel gelaufen. Aber durch ihn hindurch? Unmöglich.

Ein Schauer fuhr durch ihn. Er hatte wild zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen erster und dritter Person gewechselt, obwohl er eigentlich ganz gegenwärtig nichts tat, als einen Kaffee zu trinken und eine Postkarte zu schreiben. Fünf kleine Äffchen klettern auf einer Giraffe. Nicht schlecht für einen achten Geburtstag. Zwei Hasen auf einem Esel. Das war letztes Jahr. Jetzt immer nur der Spiegel und die große Stadt.

Finger weg von meiner Paranoia, die war mir immer lieb und teuer.

Eine Bar, ein Stift, ein Heft. Rauchen müßte man. Und Bier trinken. Das ist morgen früh gleich das Erste. Aber heute nicht mehr, es ist gleich eins. Ein verlorener Tag beginnt. Überall Menschen, die sprechen und essen, mein Kaffee ist leer und ich schreibe auf, was ich sehe. Vielleicht sollte ich die Brille absetzen? Dann guckt da auch keiner mehr aus dem verdammten Spiegel. Und ich kann beruhigt gehen.

Der schöne Schalldämpfer...